Die literarische Unbestimmtheit, der man sich traditionell ausschließlich in textimmanenter Hinsicht naherte, wurde von renommierten Unbestimmtheits- Theoretikern wie Roman Ingarden, Umberto Eco und Wolfgang Iser als Wirkungsbedingung fur die schopferische Rezeption durch den Leser definiert. Sie wird jedoch neuerdings von der interdisziplinaren Unbestimmtheits-Forschung als ein anthropologisches Phanomen reinterpretiert, welches wesentlich uber die Textgrenze hinaus als Wirkungsbedingung fur alle schopferischen Tatigkeiten des Menschen uberhaupt wirkt - einschließlich des Schopfungsaktes vom Autor und des Lektureaktes vom Leser.
Martin Heideggers Kunstphilosophie beruht ebenfalls grundsatzlich auf dem Kunstprinzip der Unbestimmtheit. Er behandelt das in seiner Existenzphilosophie beobachtbare Unbestimmtheits-Prinzip, indem er behauptet, dass das Werksein, welches das Wesen des Kunstwerkes bedeutet, als die Unbestimmtheits-Form bereits vor der Entstehung des Kunstwerkes existent ist, auch wenn es in der Sprache des Menschen noch unausgedruckt und damit verborgen bleibt. Das Kunstwerk leitet sich Heidegger zufolge nicht von der subjektiven Schopfungswelt des Kunstlers her, sondern vom Werksein, das bereits vor der Schopfung des Kunstlers als das ursprungliche Wesen des Werkes besteht. In Heideggers Kunstphilosophie wird sowohl der Schopfungsakt des Kunstlers als auch das Kunstwerk durch das Werksein bestimmt, wobei das Werksein etwas darstellt, das sowohl dem Schopfungsakt des Kunstlers als auch dem Kunstwerk vorausgeht und somit Vorrang gegenuber beiden hat.
Die aktuelle literaturanthropologische Unbestimmtheits-Forschung reinterpretiert die klassischen Unbestimmtheits-Theorien von Ingarden und Iser unter dem Gesichtspunkt der Anthropologie und entwickelt ein modifiziertes Theoriemodell der literarischen Unbestimmtheit, welches sich nicht nur auf die Rezeption des Lesers, sondern auch auf die Schopfung des Autors bezieht. Der Unbestimmtheits-Begriff, der im anthropologischen Sinne modifiziert und erweitert wird, stellt die Wirkungsbedingung fur alle kreativen Literaturtatigkeiten des Menschen dar - einschließlich Autor und Leser. Iser bezeichnet die Situation, in der sich Fiktion und Mensch treffen, als leere Situation. Dieser leere Raum entsteht, da die wirkliche Welt des Menschen nicht mit der Fiktionswelt ubereinstimmt. Die leere Situation, welche einen Zwischenraum zwischen der Fiktion und der Wirklichkeit des Menschen beschreibt, ist ein Vorstellungs- und Unbestimmtheits-Raum, den der Mensch mit seiner Phantasiekraft schopferisch ausfullen kann.
Heideggers Kunstphilosophie und das literaturanthropologische modifizierte Unbestimmtheits-Modell gehen von der gemeinsamen Grundthese aus, dass sowohl die - in Heideggers Sinne verstandene - Entstehung des Kunstwerkes als auch der - literaturanthropologisch betrachtete - Schopfungsakt des Kunstlers unter der Bedingung der Unbestimmtheit geschehen. Die beiden Positionen sprechen dabei von einem gleichartigen Unbestimmtheits-Phanomen, das den gemeinsamen Ursprung fur die Genese des Kunstwerkes und das Kunstschaffen bedeutet. Aber sie zeigen einander widersprechende Sichtweisen hinsichtlich der Interpretation desselben Unbestimmtheits-Phanomens, je nachdem, ob sie die Selbststandigkeit des Kunstwerkes oder seine Schopfung durch den Kunstler - bei der Bestimmung des Kunstwerks ? in den Mittelpunkt des Interesses rucken. Heidegger versteht den Unbestimmtheits-Raum, in dem das Werksein bis zur Genese des Werkes als eine unsichtbare Form verborgen bleibt, als die Bedingung fur das eigenwuchsige Sich-ins-Werk-Setzen des Werkseins. Das modifizierte anthropologische Modell der literarischen Unbestimmtheit dagegen beschreibt dasselbe Unbestimmtheits-Phanomen als die Wirkungsbedingung fur die schopferische Produktionstatigkeit des Menschen.