Der folgende Aufsatz hat das Ziel, zu analysieren, wie Peter Weiss in seinem Roman Die Asthetik des Widerstands das Buch Kafkas Das Schloß, das anscheinend vollig außerhalb jeder Annaherbarkeit der Deutungen liegt, durch sein Anders-Lesen und Anders-Schreiben in einen deutbaren Erzahlzusammenhang des Romantextes ubersetzt. Dies vollzieht sich in zwei Phasen: erstens die Gegen-Lekture von Kafkas Buch durch die Romanfiguren (2.1.), zweitens das Anders-Schreiben von dem kritisch Gelesenen durch die Ich-Figur (2.2.) Hier geht es darum, wie Weiss mit und gegen Kafka nicht nur liest und deutet sondern auch schreibt, also wie Kafka uber Weiss aber auch dieser selbst zu lesen sei. Hier betrachtet Weiss die Kafkasche Erzahlwelt, die ihn von Jugendzeit an beruhrt hat, weder als abgetan, noch wirft er ihm Realitatsferne und Perspektivlosigkeit vor. Trotz scheinbarer Unmoglichkeit eindeutiger Sinnfixierung bietet er vielmehr durch die Ausdrucksintensitat des Schreibens ein uberzeugendes Deutungsvorbild. Die Schreibweise Kafkas wie die Malweise des Altmeisters Brueghel vergegenwartigt die Weltbild in detailsfreudiger aber auch allegorischer Weise. Die Bilder in bei den Kunstwerken wirken daher minutios aber auch fremdartig zugleich, was sich weder durch den Abbildrealismus noch durch den Asthetizismus reduzieren laßt. Wer hier das Buch Kafkas in kritischer Rezeptionshaltung liest, ist die Ich-Figur, der Protagonist der Romantrilogie. Sein schonungsloser Blick auf die physischen und strukturellen Formen der Gewalt im Roman laßt erkennen, daß sich seine Lekturehaltung von den gewohnlichen Interpretationsweisen unterscheidet, die Kafkas Welt als etwas unmittelbar Unerklarbares oder als einen politisch unreflektierten Subjektivismus betrachten. Die Figuren im Roman seien, so deutet der Protagonist, zwar durch das Unterdruckungssystem mal mythisch umhullt, mal schicksalhaft entfremdet dargestellt, sie wurden aber die soziale, historische Relevanz, die die ursachlichen Hintergrunde ihres Leidens ausmachte, nie verlieren. Aus der dargestellten Erniedrigung im Roman liest der Protagonist die Unterdruckungssituation unter der faschistischen Herrschaft, in der er sich und seine Zeitgenossen befinden, heraus. D.h. zwischen der Wirklichkeit, die er kennt, und der fiktiven Welt, die er liest, besteht kein Unterschied. Dies zeigt sich an seiner gescharften aber flexiblen Rezeptionsweise von Klaus Neukrantz' Roman "Barrikaden am Wedding", den er, mit Kafkas Buch vergleichend, liest. Mit dem Verlauf der Kunsterfahrung entwickelt sich das Interesse des Protagonisten vom passiven Rezipienten als Leser zum aktiven Produzenten als Erzahler, also zum Anders-Schreibenden durch die Gegen-Lekture. Sein Anders-Schreiben durch Anders-Lesen macht er zum notwendigen Bezugspunkt zur Klarung des undurchschaubaren Systems und Lebenskontextes. Indem er seine Kunstaneignung, die sich in der Gegen-Lekture vollzieht, zur Schreibtatigkeit dynamisiert, will er die Energien aus der asthetischen Erfahrung auf die gesellschaftlich-kulturrellen Einsichten ubertragen. Die Kunstarteignung tragt damit zur Erweiterung der gewohnlichen Denk- und Wahrnehmungsmuster bei. Sie laßt sich insofern als eine Art produktiver Verarbeitungsprozeß definieren, bei der Fremderfahrung in Selbsterfahrung verwandelt wird. Dabei erweist sich die Schreibtatigkeit als eine literarische Praxis fur die Herausbildung neuer Kultursemantik. Wenn die Schreibpraxis als eine literarische Tatigkeit der symbolischen Vermittlung, die die Gegenstande objektiviert, zu verstehen ist, spielt sie offenbar bei der kulturellen Sinn- und Identitatsstiftung eine große Rolle. Denn indem sie die Gegenstande oder die Ereignisse, die mal abstoßen und mal anziehen, in faßbaren Sinn transformiert, schafft sie eine objektive Moglichkeit, das Empfundene und Erfahrene mit kritischer Perspektive zu betrachten und zu reflektieren. Uber die Artikulation fordert das Schreiben nicht nur asthetische Erkenntnis, sondern auch kulturelle Handlungsfahigkeit. Insofern tragt die Schreibpraxis zur Herausbildung einer neuen Kultursemantik bei, die darin besteht, sich gegen die autoritaren Macht-mechanismen zu wenden, aber ohne die freie Initiative des Individuums preiszugeben. Die neue Kultursemantik ist darauf gerichtet, eine politische Kultur und eine kulturelle Politik als historische Mangelzustande durch kritische Kunsterfahrung zu rehabilitieren. Die Kunsterfahrung tragt also zur Herausbildung einer neuen Kultursemantik, die den Zusammenhang von freier Initiative und Kritik an mogliche Mechanistik jedes Projekts zu ihrer eigenen Sache macht, bei. Gerade hierin liegt die eigentumliche Logik der kunstlerisch-kulturellen Aneignung, die den gesamten Romantext leitmotivisch durchzieht.